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Freiheit braucht Regeln
Zu Pessach und Schawuoth

 Freiheit braucht Regeln, ein demokratisches Miteinander, in dem alle Platz haben. Ohne die Übergabe der Tora am Sinai, mit den Zehn Geboten, wären die Hebräer, die ivri, Vorüberziehenden, wohl ein einfaches Nomadenvolk geblieben.

Jedes Jahr lesen wir am Sederabend die Haggada, die Geschichte der Unterdrückung und des Auszugs aus Ägypten. Von der harten Sklavenarbeit, der Tötung der männlichen Kinder, von Mosche und Aaron, die der Ewige zu Führern berief, von den Zehn Plagen, die endlich die Bewilligung des Auszugs brachten. Jedes Jahr sollen wir uns an Pessach so fühlen, als würden wir aus der Versklavung in die Freiheit aufbrechen…

In die Freiheit aufbrechen? Wozu? Wir sind heutzutage doch frei! Sind wir das wirklich? Bereits seit geraumer Zeit mahnen unsere Autoritäten, darunter Rabbiner Chajim Halevi Donin,  dass wir selbst unsere schlimmsten Sklaventreiber seien. Wir arbeiten immer mehr und härter. Freizeit muss dem Trend gemäss „aktiv“ verbracht werden und nicht ruhig, um sich zu besinnen, um zu hinterfragen, was in unserem Leben wirklich Sinn macht. Deshalb sollen wir uns jedes Jahr neu überlegen, wo wir selbst uns unfrei machen, freiwillig Sklavenarbeit tun. Wie weit wir uns durch gängige Lifestyletrends dem Mainstream anpassen. Wir sollen uns aber auch überlegen, wie viel Freiheit es in unserer Gesellschaft (noch) gibt, und wie viel Freiheit wir in dieser Gesellschaft haben.

Mich haben diese Argumente überzeugt. Seit 10 Jahren gibt es bei mir wieder einen Zweiten Seder, mit einer Haggada im traditionellen Gerüst, die ich teils selber schreibe, teils Texte von anderen übernehme. Es gibt immer lange Diskussionen danach und meistens ist es 02.00 morgens, wenn die letzten gehen.

Am Pessachmorgen brachen die Hebräer auf in die Freiheit und in eine ungewisse Zukunft. Schon bald kam es zu Reibereien und Streit. Mosche musste sich den Vorwurf „Warum hast du uns von den Fleischtöpfen Ägyptens weg geführt. Hier in der Wüste werden wir verhungern und verdursten!“ anhören. Die Nomaden zogen weiter und haderten immer wieder mit ihrem Schicksal. Am Sinai rief der Ewige Mosche zu sich, um ihm die Tora zu geben. In der Zwischenzeit überredeten die Hebräer Aaron, ein „Goldenes Kalb“, einen heidnischen Stiergott, zu giessen. Sie wollten nicht „auserwählt“, sondern so wie alle anderen sein.  
 
Doch Mosche setzte sich durch und das ganze Volk stand da, hörte und verstand die Worte des Ewigen. Zuerst sprach der Ewige zum Bet Jakov, das ihn hörte und verstand, dann zum Bet Israel. Diese Unterscheidung zwischen „Haus Jakov“ und „Haus Israel“ interpretierten unsere Weisen so: „Bet Jakov, das sind die Frauen und Bet Israel die Männer.“ Mir gefällt an dieser Interpretation natürlich, dass sich der Ewige zuerst an die Frauen wendete.
 
Von nun an hatten die Hebräer Gesetze und Regeln für ihren Alltag und ihren Umgang mit dem Ewigen. Während der Wüstenwanderung wurden diese durch neue Offenbarungen ergänzt.. Damit war der Grundstein für eine jüdische Zivilisation gelegt.

Schawuot, das Fest der „Übergabe“ der Tora, ist somit die Krönung von Pessach. Doch warum „Übergabe“? Weil es heisst, dass die Tora nicht nur der Generation vom Sinai, sondern jeder darauf folgenden und allen Einzelnen übergeben wird. Äusseres Zeichen dafür sind Bat und Bar Mitzwa. Für mich heisst das auch, dass jede Generation über die Tora nachdenken und überlegen muss, wie sie für die jeweilige Zeit zu interpretieren sei. 

Pessach ist durch das Omer (Tage) zählen mit Schawuot zu einem Zyklus verbunden. Doch Omer zählen wird, weil nicht mehr „zeitgemäss“, von vielen nicht mehr praktiziert. Pessach ist eines der beliebtesten jüdischen Feste und wird in vielen Variationen, von säkular bis orthodox gefeiert. Schawuot führt eher ein Schattendasein. Vielfach wird es nur noch als Erntefest gesehen oder steht die Megillat Ruth, die Geschichte der ersten Konvertitin zum Judentum, die an diesem Tag vorgelesen wird, im Mittelpunkt.  

 Die Erinnerung an die Übergabe der Tora, der Regeln und Gesetze scheint unpopulär. Nicht nur bei uns, auch allgemein. Gesetze und Regeln werden als Zwänge betrachtet, als Einengung der Individualität und Selbstverwirklichung. Dabei sind die Zehn Gebote vom Sinai mit Teilen des römischen Rechts Grundlage aller westlichen demokratischen Staaten. 

 Mit oder ohne Omer zählen sollte Schawuot wieder mehr im Mittelpunkt stehen, als Fest der Übergabe der Tora. Ohne Gesetze und Regeln herrschen Egomanie und Anarchie. Grenzenlose Freiheit darf es nicht geben. Freiheit für uns, für mich, endet immer da, wo die Freiheit des Anderen, der Anderen beginnt. Deshalb brauchen wir (vernünftige) Gesetze, um in Frieden und Freiheit miteinander zu leben.
Tanja Kröni 

veröffentlicht im Luchot 3001 (März bis Mai 2010)